1939-1940: Propagandakatalog
Das dunkelste Kapitel des "Seydlitz" ist seine 1939/40 erschienene Neubearbeitung Ein neuer Mitarbeiterstab machte, wie 1938 von den reichseinheitlichen Richtlinien für das höhere Schulwesen gefordert, "die nationalsozialistische Weltanschauung" zu seinem "Fundament" und damit das Lehrbuch zu einem Propagandainstrument. Nahezu alle ideologischen Versatzstücke, Schlagworte und politischen Maßnahmen des Regimes wurden abgearbeitet: Führerkult, Antikapitalismus, Agrarromantik und das Volksgemeinschaftskonstrukt genauso wie Antisemitismus, Germanenverherrlichung und Rassismus. Etliche Kapitel waren nichts anderes als eine Leistungsschau nationalsozialistischer "Aufbauarbeit" oder fanden in ihr den unvermeidlich krönenden Abschluss. Was sich an Widersprüchen auftat, wurde übertüncht oder an den Rand gedrängt. Den Gegensatz von "Blut-und-Boden" und Industriestaat etwa löste man mit dem "bäuerlichen Bluterbe" des deutschen Arbeiters. Er sorgte so für eine "beseelte" und nicht "mechanische" deutsche Industrie. Die stiefmütterliche Behandlung war eine andere Lösung: Über den wichtigen Industriestandort Berlin erfuhr man kaum etwas, desto mehr über die Bauvorhaben Hitlers und seines Architekten Speer. Auch scheinbar politisch unergiebige Themen wurden weltanschaulich aufgeladen: In dem Kapitel "Mensch und Erdball"- sein Gegenstand war eigentlich die Erde als Himmelskörper - wurde der "junge Deutsche" zum "Träger eines Geistes, der dem All ins Auge schauen darf, weil ihm die Kraft des Erkennens und Glaubens eigen ist". Wes Geistes Kind er war, erschloss das daran anknüpfende "Himmelsbild der Germanen". Dabei bedienten sich die Seydlitz-Autoren nicht mehr nur des bisher üblichen Sachtextes, sondern wählten mit dem Erlebnisbericht eine Form, die die von den Richtlinien beabsichtigte "Steigerung der Begeisterungsfähigkeit" bei den Schülern hervorrufen sollte. Hier ließ man einen Hitler-Jungen im Zeltlager den nächtlichen Sternenhimmel erleben, an anderer Stelle war es "die Heerschau des deutschen Volkes" auf dem Nürnberger Reichsparteitag der NSDAP.
Glaubensfester Herausgeber und Zensur
Ob es sich bei den Autoren um echte Überzeugungstäter handelte, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen. Die Schulbücher mussten ein strenges Zulassungs- und Zensurverfahren durchlaufen, das dazu genutzt wurde, die Zahl der Schulbuchtitel pro Fach zu reduzieren. Alle zu einem bestimmten Stichtag eingereichten Lehrwerke eines Faches und Schultyps wurden in einem Gang vom Reichserziehungsministerium und einer bei der Kanzlei des Führers angesiedelten Parteistelle geprüft, Vergleiche somit möglich. Wurde ein Schulbuch verworfen, war kaum mit einer Zulassung zu rechnen. Die Nachbesserung beanstandeter Lehrbücher war die Ausnahme. Der Druck auf die Verlage und ihre Autoren war also enorm. Eine günstige Ausgangsposition versprach dabei nicht nur der NS-konforme Inhalt, sondern auch ein entsprechender Bearbeiterkreis. In dem Herausgeber Dr. Walther Jantzen jedenfalls hatte der Verlag des "Seydlitz" einen Mann mit tiefbraunem Profil gewonnen. Jantzen (1904 -1962) war Sachbearbeiter für das Reichserziehungsministerium, in der politischen Lehrerschulung tätig, Gausachbearbeiter für Erdkunde im Nationalsozialistischen deutschen Lehrerbund und später Schriftleiter der Zeitschrift "Weltanschauung und Schule". Der promovierte Germanist tat sich nach Mitte der 1930er-Jahre mit Veröffentlichungen zu einer rassistischen Geopolitik hervor, die selbst Verfechtern dieser Richtung zu weit ging. Er proklamierte ganz im Sinne des "Herrenmenschentums" den Siegeszug der "nordischen Rasse" über alle Naturwidrigkeiten hinweg. Mit dem "Bekenntnis zum Nordrassischen", das sich in "Glaubenssätzen" zu äußern habe, war er der Garant für den Primat der Weltanschauung.
Kriegsverschleierung
Janzten dürfte dank seiner persönlichen Kontakte zu den Prüfinstanzen noch von anderem Nutzen gewesen sein. Früher als andere Autoren war er über die propagandistischen Winkelzüge informiert, denen auch das Geographiebuch zu folgen hatte. Das zeigte sich besonders während der über einjährigen Einreichungs- und Prüfungsphase der Lehrwerke zwischen 1938 und 1939. Denn dieser Zeitraum brachte mit dem "Anschluss" Österreichs und weiteren Annexionen nicht nur das "Großdeutsche Reich", sondern leitete auch über in die konkrete Kriegsplanung. Flankiert wurde sie von innen- wie außenpolitisch motivierten Beschwichtigungs- und Verschleierungsmanövern, die dem Lehrplan von Anfang 1938 teilweise widersprachen und mit denen der "Seydlitz" kurzgeschlossen werden musste. Die Richtung wies die Sportpalastrede Hitlers vom 26. September 1938, in der er das Sudetenland zu seiner "letzten territorialen Forderung in Europa" erklärte. Darstellungen, die Gebietsansprüche jenseits der Grenzen des "Großdeutschen Reiches" untermauerten, waren nun "unerwünscht". Im "Seydlitz" hatten daher weder das Schlagwort "Volk ohne Raum" noch der "zerstörende" Charakter der Ostgrenzen Platz. Das Schicksal der "Grenz- und Auslandsdeutschen" in Europa und die Folgen des Versailler Vertrages wurden zwar weiterhin in düsteren Farben geschildert, ohne aber dem Revisionismus das Wort zu reden ganz im Gegensatz zu der vehement eingeklagten Rückgabe der Kolonien. Aus dem Kapitel "deutsche Volksgruppen im Ausland" verschwanden etwa Elsässer und Südtiroler, letztere aus Rücksicht auf den Bündnispartner Italien. Auch antibolschewistische Ausfälle fanden bis auf eine, antisemitisch angelegte, Stelle angesichts des Paktes mit Stalin nicht statt. Anders die Texte über Großbritannien, Frankreich und die USA, die mit antidemokratischen, antikapitalistischen und rassistischen Urteilen durchsetzt waren.
Gesteuerter Rassismus
Auch Passagen über die reichsdeutsche Bevölkerung mussten umformuliert werden. Innenpolitisch war die Rassenideologie mit Blick auf die viel beschworene deutsche Volks- und Schicksalsgemeinschaft nicht mehr opportun. Die Erdkunde hatte das "rassische Gefüge" des deutschen Volkes mit seinen unterschiedlichen Charaktermerkmalen auf das "Germanisch-Nordrassische" zu reduzieren. Genau das tat der "Seydlitz" Jantzens und betonte dabei die "völkische Geschlossenheit". Gleichzeitig blieben der Rassismus und seine übelste Ausprägung, der Antisemitismus, das Erklärungsmodell für die Entwicklung und die politische Einschätzung der nichtdeutschen Völker, namentlich für die Diskreditierung der deutschfeindlichen Mächte.
Während des Weltkrieges blieb es bei dieser bis Anfang 1940 reichenden Momentaufnahme. Auf Anordnung des Reichserziehungsministeriums sollte eine neue Ausgabe für höhere Schulen erst nach Beendigung des Krieges im Lichte eines "neugeordneten" Europas bearbeitet werden. Erst der "Seydlitz" für Mittelschulen, ab 1940 neu bearbeitet, sprach 1942 dann von "Lebensraumerweiterung im Osten", vom "Werden einer ausgeprägten Volksgrenze" im besetzten "Ostland" in Anspielung auf die mörderische Ausbeutungs- und Bevölkerungspolitik, und davon, dass im Reichsgebiet "zugrunde gehen muß, was nicht vollwertig ist".