1908-1919: "Nationale Geographie"

Im Zeichen der "nationalen Geographie"
"Auf dem Gymnasium (...) fehlt es vor Allem an der nationalen Basis. Wir müssen als Grundlage (...) das Deutsche nehmen; wir sollen nationale junge Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer." Die Philippika Kaiser Wilhelms II, gehalten auf der Schulkonferenz von 1890, nahm auch die Geographie in die Pflicht. Das wilhelminische Reich betrieb, ganz der machtpolitischen Logik der Zeit folgend, offensiv Weltpolitik mit dem Anspruch auf Weltgeltung, und die Geographen waren aufgerufen, die junge Generation mit der passenden Gesinnung und den relevanten Kenntnissen auszustatten. Das Fach hatte sich in den Dienst des praktischen Nutzens und an der Gegenwart zu stellen, die - so eine weitere "allerhöchste" Äußerung - "ganz im Zeichen des Verkehrs" stehe. In Oehlmanns "Seydlitz" von 1902 fand sich noch ein saturierter Nationalstolz als Nachhall der gelungenen Reichsgründung von 1871, wenn er das Deutsche Reich als europäische Großmacht beschrieb, dessen "starkes Heer und leistungsfähige Flotte seines Daseins Bedingung und seiner offenen Grenzen Schirm und Schutz" sind.
Sechs Jahre später teilte der "Seydlitz" die Weltmachtsambitionen. Das deutsche Volk sah der neue Bearbeiter Dr. Adolf Rohrmann nicht nur durch Sprache und Kultur geeint, sondern auch in dem "gemeinsamen politischen Streben, das Vaterland zur achtunggebietenden Weltmacht zu erheben". "Deutschlands Seegeltung" wurde ein Unterkapitel gewidmet und darin zum Schutz des Überseehandels einer "starken Kriegsflotte" das Wort geredet.
überhaupt hatte der "Seydlitz" die ökonomischen Interessen des Reiches fest im Blick, wenn er in den stark wirtschaftsgeographisch geprägten Länderkunden jeweils die deutschen Handels- und Verkehrsverbindungen vermerkte und auf chancenreiche Absatzmärkte, Rohstofflager und die Stellung der konkurrierenden Kolonialmächte einging. Im Rahmen der nationalen Bildungsaufgabe interessierte sich die Schulgeographie jetzt auch stärker für die Rolle des Menschen als Nutzer und Gestalter seiner natürlichen Umgebung. Die Anthropogeographie gewann an Bedeutung. Dabei wurde der Landesnatur, dem "Boden", ein prägender Einfluss auf die Fähigkeiten und die Eigenschaften von Völkern beigemessen.

Rohrmann verarbeitete Anthropogeographisches in seinen faktenreichen Ausführungen zur Wirtschafts-, Verkehrs-, Siedlungs- und Bevölkerungsgeographie, aber auch in seiner allzu simplen Verknüpfung von "Nationalcharakter" und Naturphänomenen. So sollten "die reichen Bodenschätze England in ein großartiges Industriegebiet verwandelt und einen Handelsgeist im ganzen Volk ausgebildet" haben, den Rohrmann "schon in den Naturanlagen der Briten begründet" sah. Die alten Völkerstereotype erlebten eine Renaissance. Vom "Spanier" wurde wieder berichtet, er sei "bei aller Glut des Temperaments steif-vornehm, stolz, aber bedürfnislos und größtenteils ohne Lust zur Arbeit."

Geographie für Geographen

Rohrmann schließlich beendete im "Seydlitz" die lange Phase der Geographie "nach Schablone". Die Länderübersichten und Einzelbeschreibungen nahmen die Form von individuellen Gesamtschauen an. Der Seydlitz-Tradition treu blieb man insofern, als eine kleinteilige Untergliederung der Kapitel die Orientierungsfunktion des alten Schemas übernahm.
Den politisch-topographischen Lernstoff behandelte Rohrmann noch strikter nach geographischen Gesichtspunkten wie auch das Historische, das nur noch in Abschnitten über Besiedlung oder Bewohner herangezogen wurde. Der "Seydlitz" löste sich damit endgültig aus der langen "Zwangsehe mit der Geschichte" und richtete sich an ausgebildete Geographielehrer. Adolf Rohrmann (1859-1942) selbst hat diese Scheidung tatkräftig unterstützt. Neben Deutsch und Geschichte hatte er Geographie bei namhaften Professoren (Hermann Wagner, Otto Krümmels) studiert. Als Direktor eines Reform-Realgymnasiums in Hannover nahm er gleich sechs Studienräte mit voller geographischer Lehrbefugnis in das Kollegium auf und engagierte sich lange Jahre als Vorstandsmitglied des Verbandes deutscher Schulgeographen. Und noch etwas geht auf sein Konto: Der Text und das Kartenmaterial wurden von dem entlastet, was der obligatorische Schulatlas besser zeigte. Umständliche Beschreibungen und die farbigen Karten verschwanden.


Adolf Rohrmann (1859-1942)

Unter dem "Schutz" des Deutschen Reiches: Dorfszene aus dem Inneren Togos

Die "deutsche" Hafenstadt Tsingtau in China