1922-1928: Deutschtumskunde
Nach dem Schock der Weltkriegsniederlage und dem Inkrafttreten des harten Versailler Friedensvertrages sah Rohrmann seine Hauptaufgabe darin, "die Schüler mit dem Bewusstsein der Zukunftspflicht zu erfüllen" und sie instand zu setzen, "die weltwirtschaftlichen Verhältnisse auszunutzen zur Mitarbeit am Wiederaufstieg unseres Volkes und Staates". Der Herausgeber und sein neuer sechsköpfiger Mitarbeiterkreis - fünf von ihnen gehörten dem Hauptvorstand des Verbandes deutscher Schulgeographen an - machten den "Seydlitz" auf langen Strecken zu einer genauen Bilanz der auf Grund des Vertrages eingetretenen deutschen Verluste und der damit verbundenen Produktionseinbußen. Wirtschaftsgeographie des Deutschen Reiches an erster Stelle, dann die der Staaten, zentriert auf ihre Bedeutung für das geschwächte Reich, erhielt oberste Priorität. Wachstumspotenziale und -hemmnisse wurden vermerkt, aussichtsreiche neue oder erneuerbare Wirtschaftsbeziehungen prognostiziert und die Veränderungen in der globalen Mächtekonstellation dargestellt.
Gewandelte Interessenlagen und sich eröffnende Spielräume für die deutsche Wirtschaft und Politik wurden dabei genauso aufmerksam registriert wie die positive Wirtschaftsentwicklung der Weimarer Republik bis 1928. Das ist die eine pragmatisch-zweckoptimistische und faktenorientierte Seite des "Seydlitz".
Deutschtumskunde
"Zukunftspflicht" und "Wiederaufstieg" hieß aber auch, entsprechend des politischen Grundkonsenses in der Weimarer Republik, Revision des "Diktates" von Versailles und Stärkung des nationalen Selbstbewusstseins. Dafür bedienten sich die Autoren des "Seydlitz" von der Geographie bereitgestellter nationalistischer Konstrukte und betraten, wie die Geographenzunft überhaupt, wissenschaftlich nicht abgesichertes Terrain. Die verlorene Großmachtstellung kompensierte man mit der vermeintlichen deutschen Kulturdominanz in einem um das Deutsche Reich herumkonstruierten Mitteleuropa.
Der Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung - auch Flamen und Niederländer wurden vereinnahmt - wie Anleihen aus längst vergangenen Perioden der deutschen Geschichte mussten herhalten, um den überlegenen Kultureinfluss des deutschen "Volkstums und seiner Stämme" in den "Randlandschaften" des Reiches, vor allem in Polen, zu behaupten. Das sogenannte Grenz- und Auslandsdeutschtum zog sich als dicker roter Faden durch alle Hefte. Die Leistungen deutscher Auswanderer in aller Welt schrieb man der "völkischen Wesensart" zugute. Das "Grenzdeutschtum" in den abgetretenen Gebieten spielte zusammen mit dem geforderten Selbstbestimmungsrecht der Völker als Revisionslegitimierung eine besondere Rolle. Das Gefühl erlittenen Unrechts und der Zusammengehörigkeit sollte bei den Schülern wach gehalten werden, auch wenn die zum Teil hohe Rückwanderungsquote durchaus Erwähnung fand. Rohrman und seine Kollegen mahnten die Bildung einer deutschen auf Kultur und Sprache basierenden "Volksgemeinschaft" mit dem "festen Willen zur staatlichen Einheit" an. Dabei bot die in den Lehrplänen vorgeschriebene Rassenkunde in den Augen der Bearbeiter keine Argumentationshilfe.
Zwar hoben sie "nordische Rasse", "Arier" und "Germanen als höchste Stufe geistiger Selbsttätigkeit" hervor, auch wurde die Messung des Schädelindexes vorgestellt, gleichzeitig jedoch kamen sie zu der gegenläufigen Kernaussage: " Die Rasse hat keine ausschlaggebende Bedeutung für die Kulturentwicklung." Zudem waren "Rasse" und Volk für sie nicht deckungsgleich, vielmehr eine fortgeschrittene "Rassenmischung" charakteristisch und überhaupt in der Rassenlehre noch Manches ungeklärt.
Contra und pro Nachkriegsordnung
Ohne jeden Vorbehalt fand dagegen die hypothesenbehaftete Geopolitik Eingang in den "Seydlitz". Mittels geodeterministischer Begriffe wie "natürliche Grenzen", darunter auch Kultur- und "Volkstumsgrenzen", oder zerschnittene "Kraftlinien" wurde die Unhaltbarkeit des Status quo suggeriert und ein düsteres Zukunftsszenario entworfen. Das Gespenst der "Balkanisierung" sah man in Mitteleuropa umgehen und überall "Irredenta" (d.h. die Unerlösten)-Gebiete. Dabei kam es zu so verstiegenen und republikfeindlichen Behauptungen wie: "Demokratie und Individualismus" hätten bereits das alte Griechenland "balkanisiert". In eindeutiger Revisionsabsicht wurden auch die ehemaligen deutschen nun unter den Mandatsverwaltungen "heruntergewirtschafteten" Kolonien behandelt. Als Auffangbecken deutschen Bevölkerungsüberschusses und als Rohstoffquelle galten sie als unverzichtbar. Allerdings ging der "Seydlitz" nicht so weit, relativierende Fakten zu verschweigen: Der schon vor dem Krieg bemerkbare Trend sinkender Geburtenzahlen wurde vermerkt wie auch der Befund, dass die Überseebesitzungen in der Regel keine Siedlungskolonien gewesen waren. 1927 vor der "Höllenfahrt" (U. Wehler) der Weltwirtschaftskrise zeigte der "Seydlitz" angesichts der rasanten Wirtschaftsentwicklung und der auf Interessensausgleich und internationale Verständigung gerichteten Außenpolitik Gustav Stresemanns verhaltenen Optimismus. In Europa erschien nur noch ein Teilstück der Ostgrenze, der polnische Korridor, revisionsbedürftig, was in Verhandlungen zu klären war. Erste Handelsabkommen waren geschlossen, weitere sah er folgen, sogar eine europäische Wirtschaftsunion machte er am Horizont aus.
"... und doch führen wir 1925 bereits wieder für 300 Millionen Mark Waren in die USA aus."