Mythische Denkformen gewinnen in der Gegenwart in dem Maße an Bedeutung, in dem sich akute lebensweltliche Probleme der Erkenntnis Wissenschaft und der Verfügungsgewalt der Technik entziehen und diese sich selbst zum Problem werden. Dass die Entwicklung von Wissenschaft und Technik in der Moderne das mythische Denken nicht aufgehoben, sondern ihm geradezu, um Sinndefizite zu kompensieren, zu einer neuen Konjunktur verholfen hat, machen krisenhafte Erfahrungen in der Gegenwart deutlich. Darauf reagieren einzelne Gruppen nicht selten mit Verschwörungsmythen, die sich partiell in Struktur und Gehalt, zumal in ihren Problemlösungsangeboten, an alte Mythen anlehnen und diese ideologisch für ihre jeweiligen Absichten instrumentalisieren. Ein Denken, das den Mythos als eine vorwissenschaftliche Form der Weltbetrachtung und Weltdeutung versteht, wird ihn notwendigerweise im Gegensatz zum wissenschaftlichen Weltbild sehen, das auf rationaler Erkenntnis fußt. Nach dieser Auffassung gehört der Mythos dem Reich der Fabel, der Erfindung, ja dem Unbewussten und Archaischen an. Im Lichte eines Denkens betrachtet, das auf Überprüfbarkeit, Objektivität pocht, ist er ein defizienter Modus der Wirklichkeitsaneignung, also etwas, was seinen Sitz in der frühen Menschheitsgeschichte hat. In den Unterrichtseinheiten dieses Heftes geht es zum darum, anhand von wirkungsmächtigen Figurationen, Handlungsmustern und Motiven die Arbeit von Menschen am Mythos in unterschiedlichen Epochen und Kulturen zu untersuchen und dabei deutlich zu machen, wie jede Zeitgenossenschaft ihre Auseinandersetzung mit spezifischen Problemen ihrer Lebenswelt, mit kollektiven Erfahrungen und Bedürfnissen der Menschen, mit ihren Gefährdungen, Wünschen und Träumen in Formen mythischer Überlieferung deutet.