Monika Taplan-Bach: Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf den Kita-Alltag und die kindliche Entwicklung aus? (Oktober 2020)

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1. Erfahrungsberichte aus der sozialpädagogischen Praxis – der Kita-Alltag in der Zeit der Corona-Pandemie
 
Um herauszufinden wie Kinder, Ihre Eltern und die pädagogischen Fachkräfte mit dem neuen Kita-Alltag zurechtkommen, wurde eine Befragung im Landkreis Konstanz zwischen dem 01. August und dem 23. September 2020 durchgeführt, an der sich 62 Fachkräfte aus Kindertageseinrichtungen beteiligt haben. Auf dieser Grundlage entstand die folgende Darstellung des Ist-Zustandes: Es handelt sich dabei um Beschreibungen einzelner Einrichtungen, die sich nicht grundsätzlich verallgemeinern lassen und die Verschiedenheit bei der Umsetzung der Regelungen im Zusammenhang mit der Pandemie darstellen.

1.1 Fachkräfte: „Ich finde diese Zeit echt anstrengend“

„Mit dem Moment des Lockdowns, der Schließung der Kindertageseinrichtungen war auf einmal alles anders. Neben dem Entsetzen entstand auch ein kurzer Moment des Innehaltens, des Rückblicks und des Ausblicks auf Wesentliches und Notwendiges. Dies war nicht nur ein schlechter Moment, sondern entschleunigte…“ einige (50 Nennungen) Fachkräfte „und ermöglichte kurzzeitig Raum für neue Gedanken.“
Der Alltag in einer Kindertageseinrichtung bringt grundsätzlich, auch ohne Coronagefahr, vielschichtige Aufgaben und stressige Momente mit sich. Eine Erzieherin muss grundsätzlich sehr flexibel sein. Jeder kennt die Cartoons, auf denen eine Erzieherin mit 100 Händen abgebildet ist. Der Moment des Innehaltens aber schien wie ein Einatmen, um dann mit Vollgas den Kita-Alltag in der Corona-Pandemie zu organisieren. „Erzieher *innen brauchen jetzt gefühlt 1000 Hände und am besten noch fünf Köpfe!“
Der Alltag ist geprägt durch viele und schnelle Veränderungen. Heute ist der Mundschutz im Garten Pflicht, morgen wieder nicht. Muss die Praktikantin mit Schnupfen zu Hause bleiben oder darf sie mit einer Schniefnase zum Kindergarten kommen? Mit dem Träger müssen im Augenblick viele Absprachen getroffen werden! Und die Umsetzung der Bestimmungen wird von Träger zu Träger etwas unterschiedlich ausgelegt. Das verunsichert.
„Unser Hygieneplan der Kita sieht vor, dass sobald Kinder die Toilette besucht haben die Wasserhähne, die Türgriffe und natürlich die Toilette selbst desinfiziert wird. Vor der Toilette stehen orangefarbene Hütchen, um zu kennzeichnen, dass die Toilette besetzt ist. Die Waschbecken im Waschraum sind einzelnen Gruppen zugeordnet. Am Ende des Tages müssen die Spielmaterialien und alle Flächen der Tische, Stühle und Regale in jeder Gruppe desinfiziert werden. Auch zwischen den Spielphasen der einzelnen Kinder werden Flächen desinfiziert.“
Alle Einrichtungen, die nach einem offenen Konzept arbeiten, haben wieder Gruppen gebildet und diesen festes Personal zugeordnet. In einigen Einrichtungen haben die einzelnen Gruppen auch ihre eigenen Eingänge.
„Sozialpädagogische Übungen werden bei uns in fest vereinbarten Zeitfenstern durchgeführt. Da ist kein Raum für Spontaneität, da ein Raumplan organisiert und festgelegt werden muss. Regeln halten fest, wer, wann und wie lange eine Aktivität mit den Kindern durchführen kann.“
In allen Einrichtungen wurde das gemeinsame Singen sowie Bewegungsangebote stark eingeschränkt. Einige Fachkräfte berichten davon, dass Bewegungsspiele in den Garten verlegt wurden.
 
Rechtliche Fakten:

Die Verantwortung, Infektionsschutzmaßnahmen in einer Kindertageseinrichtung umzusetzen, liegt beim Träger. Die Umsetzung erfolgt in Zusammenarbeit mit der Einrichtungsleitung. Grundlage bilden das Arbeitsschutzgesetz, das Infektionsschutzgesetz sowie je nach Bundesland die entsprechende Corona Verordnung einschließlich Hygienebestimmungen. Hinzu kommen auch Empfehlungen des Gesundheitsamtes und der Unfallkasse. Gemäß §15 ArbeitsschutzG haben Erzieherinnen die Pflicht, die Gesundheit der Kinder und auch ihre eigene zu schützen. Hierzu gehört auch, dass Missstände erkannt und Maßnahmen zur Beseitigung von Gefährdungen getroffen werden. Das bedeutet, dass die Infektionsschutzmaßnahmen variabel den momentanen Fallzahlen angepasst werden müssen.
 
1.2 Eltern und Erzieherinnen, eine Erziehungspartnerschaft in einem Boot?

Davon ist zur Zeit in vielen Einrichtungen nicht mehr viel übrig. Unklarheiten und häufig neue Regelungen verunsichern die Eltern. Dies führt teilweise zu Konflikten zwischen Eltern und Erzieherinnen. Die meisten Befragten berichten, dass Eltern und andere Personen die Einrichtung gar nicht betreten dürfen. Einige erlauben den Zutritt im Flur mit Mundschutz. Hinzu kommt, dass in den meisten Einrichtungen keine Feste mehr gefeiert werden dürfen und die Einrichtung als Begegnungsstätte ausfällt.
So werden manche Eltern gar nicht mehr erreicht. Dies bezieht sich leider auch auf diejenigen, die besonders Unterstützung bräuchten. Elterngespräche werden insgesamt reduziert angeboten. Es gibt Einrichtungen, in denen grundsätzlich keine Tür- und Angelgespräche mehr stattfinden. Andere Einrichtungen beschreiben:„Wir führen kurze Tür- und Angelgespräche mit Mundschutz durch.“ In manchen Einrichtungen schicken Eltern ihre Kinder alleine durch die Eingangstüre. „Um sicherzustellen, dass kein Kind in der Wahrnehmung der Fachkräfte verloren geht, wurde mit unseren Eltern vereinbart, dass diese anrufen, wenn das Kind durch die Eingangstüre getreten ist.“ „Bei uns werden Informationen in Form von Aushängen durch die Scheibe am Eingang transportiert.“
Das Telefon ist in diesen Tagen ein wertvolles Medium für Elternkontakte. Mit manchen Eltern gelingen Kontakte über Videoanruf oder Videokonferenz. „Optimistisch und kreativ muss man sein, dann kann man diese Einschränkungen kompensieren“, berichtet eine Erzieherin, die sich mit Eltern zum Spaziergang trifft und sich auf diese Weise austauscht.
Ein weiteres Problem stellt der Eingewöhnungsprozess von neuen Kindern da. Wie geht das, wenn Eltern nicht mit in die Einrichtung kommen dürfen? In einem Fall wurde die Eingewöhnung im Garten durchgeführt. In einem anderen Fall wurde für eine Mutter ein Raum frei gehalten.

1.3 „Unsere Kinder haben die Pandemie aufgenommen und Verhaltensregeln gelernt, wie das Zähneputzen. - Die haben sich schon an die Situation gewöhnt."

Mehr als die Hälfte der befragten Fachkräfte aber befürchten enorme emotionale Auswirkungen. „Gerade Kinder, die Nähe bräuchten weil sie zum Beispiel krank sind oder die Trennung von ihren Eltern noch nicht gut verkraften, können nur schlecht getröstet werden, weil der Abstand eingehalten werden muss.“ „Kinder können durch die Gruppentrennung ihre Freunde nicht mehr treffen und auch die alte Bezugserzieherin nicht mehr sehen.“ „Kuscheln mit Anderen im Rollenspiel ist verboten.“ In einer Einrichtung sind Kuscheltiere verboten, die bisher als Übergangsobjekte in der Eingewöhnungsphase von zu Hause mitgebracht werden durften. „Manche Kinder haben Angst vor Corona und meiden von sich aus Berührungen.“ „Bei uns gibt es Kinder die spielen allein, weil sie sich von Eltern, Erzieherinnen und Medien gewarnt fühlen.“ Sie „haben Angst, weil sie gehört haben, dass sie Oma und Opa anstecken könnten.“ Dadurch entsteht oft ein großes Verantwortungsgefühl und zusätzlich noch Schuldgefühle.

2. „Ich habe Angst um den „sicheren Hafen“ für die Kinder“ - Mögliche Folgen der Corona Pandemie auf die kindliche Entwicklung

Die Kindertagesstätte mit ihren Fachkräften bildet zusammen mit dem Elternhaus eine Erziehungspartnerschaft. Die Grundlage für die Persönlichkeitsentwicklung und für alles Arbeiten in Förder-und Bildungsbereichen muss der „sichere Hafen“ sein. Die Kindertagesstätte soll für Kinder ein Ort sein, an dem sie sich, neben dem Elternhaus, zu Hause fühlen. Sie sollen einen Ort vorfinden, an dem sie sich wohl und sicher fühlen können. Sie sollen mit ihren Sorgen gehört werden, getröstet werden, ihre Emotion ausdrücken dürfen und beim Problemlösen unterstützt werden. Was bedeutet es für die Sozialisation und Entwicklung der Kinder, Angst vor Krankheit haben zu müssen und Abstand von anderen Menschen halten zu müssen? Was geht im Kopf eines Kindes vor, wenn es von einer Erzieherin mit Mund- und Nasenschutz getröstet wird? Was, wenn der Körperkontakt fehlt über den Hormone für eine beruhigende Bindung ausgeschüttet werden können? In der Aus- und Weiterbildung von pädagogischen Fachkräften hat die Bindungstheorie nach John Bowlby (1907-1990) Einzug erhalten, um das kindliche Verhalten analysieren zu können. Ziel ist die Entwicklung einer sicheren Bindung. Der Bindungsforscher Karl Heinz Brisch geht davon aus, dass die ersten drei Lebensjahre besonders entscheidend für die Entwicklung der sicheren Lebensbasis sind (Ustdorf,A. (2014): Bindung: die sichere Basis fürs Leben. Psychologie heute. 41, Seite 20-25, Weinheim, Beltz Verlag.)
Das sichere Bindungsmuster entsteht durch den feinfühligen Umgang mit dem Kind, in dem seine Bedürfnisse wahrgenommen werden und angemessen darauf reagiert wird. Auf liebevolle Weise soll das Schutz-, Explorations-, und Autonomiebestreben des Kindes gefördert werden.
Sicher gebundene Kinder gehen offen auf Erwachsene zu. Sie haben positive Erfahrung mit ihren Bindungspersonen und bitten im Bedarfsfall vertrauensvoll um Hilfe. Sie gehen selbstverständlich davon aus, dass Erwachsene sie beschützen und bei Schmerz, Angst oder Kummer Unterstützung leisten und Gefahren beseitigen. Diese Kinder verkraften eine kurzzeitige Trennung, weil sie darauf vertrauen können, dass die Bindungsperson freudig zu Ihnen zurückkehrt. Deshalb können sie aufgeschlossen und motiviert Dinge entdecken und Lernen.
Eine Krisensituation, wie die Corona-Pandemie, stellt für alle Kinder eine akute Belastungssituation dar. Auch Kinder, die ein sicheres Bindungsmuster verinnerlicht haben, sind auf den Schutz des „sicheren Hafens“ angewiesen. Dann sind sie am ehesten in der Lage darauf zu vertrauen, dass der neuen, schwierigen Situation durch die Bindungsperson richtig begegnet wird. Sie lassen sich gerne darauf ein, die neuen Regeln zu lernen und einzuhalten.
Wenn aber die Bindungspersonen, die Eltern oder die pädagogischen Fachkräfte durch die Situation der Pandemie überfordert sind und selbst keine Sicherheit ausstrahlen, wenn sie andauernd überfordert und gestresst sind, was dann? Dann ist die sichere Basis bedroht. Kinder, die sich erst in der Einrichtung eingewöhnen müssen oder für die durch die neue Gruppenbildung eine neue Fachkraft zuständig ist, fühlen sich noch unsicher. Kinder, die in der Erziehungswelt „Kindertagesstätte“ diese sichere Basis nicht empfinden, erleben in der Corona-Pandemie erhöhten Stress. Durch den fehlenden „sicheren Hafen“ werden Gefühle wie Angst, Enttäuschung oder Trauer unterdrückt. Wurden Regulationsstrategien noch nicht eingeübt, sind die Kinder nicht in der Lage ihren Stress selbst zu reduzieren. Möglicherweise führt dies zu einer Verfestigung der Unterdrückung ihrer Gefühle und zu Rückzug. Sie ergeben sich dieser Belastung. Sie erwarten keine Unterstützung durch Gleichaltrige oder Fachkräfte. Sie fühlen sich nicht geborgen und unterstützt. Solche Kinder führen in der Regel keine oder nur einfache Beschäftigungen durch. Diese täglichen Handlungen sind aber nicht vergleichbar mit neugierigem Entdeckungsdrang und mutigem Experimentieren, wie es beim sicher gebundenen Kind zu beobachten ist und welches zu Bildung und Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit führt.

3. Wie kann dieser Entwicklungsgefährdung begegnet werden? – „Kinder ahmen den Umgang mit der Pandemie nach“

Der eigene resiliente Umgang mit der Pandemie spielt eine große Rolle. Fachkräfte mit positiver Grundhaltung, die es schaffen in der schlechten Situation gute Lösungen zu finden, sind hilfreich für die Kinder.
Das positive Vorbild in der Krise stärkt das Kind und sein Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit. Durch Partizipation und kleinere Aufgaben, die auf das Kind übertragen werden, erlebt das Kind aktive Stressbewältigung. Das führt zu einer Persönlichkeitsstärkung, da sich das Kind selbst lösungsorientiert wahrnimmt. Durch Autonomie, Bewältigung der Aufgaben, das Erleben der eigenen Funktionstüchtigkeit und Leistungsfähigkeit entsteht ein Gefühl von Sicherheit und Lebenstüchtigkeit. Dies wiederum erzeugt hohes Wohlbefinden (vgl. Becker, Peter (2006): Gesundheit durch Bedürfnisbefriedigung, Hogrefe Verlag, Göttingen, S. 28ff).
Sicher tut man weder sich selbst noch den Kindern einen Gefallen, wenn der Tag geprägt ist von der Aufnahme neuer Nachrichten bezüglich der Pandemie-Entwicklung und Gesprächen darüber. Vorsichtsmaßnahmen sind wichtig und gut, aber positive Gefühle im Alltag, Freunde und Freude, Entdeckungen, Spielen und Lernen müssen weiterhin den größeren Raum im Alltag einnehmen. Das Kunststück ist es, die Kinder zu informieren und ein Regelbewusstsein zu erzeugen und gleichzeitig in dieser neuen Situation Akzeptanz und Normalität zu entwickeln.

Die folgenden Praxisanregungen entstammen größtenteils der Befragung:

Ankommen am Morgen: Sobald die Kinder in die Einrichtung kommen, werden sie von den Fachkräften mit freundlichem Blick und persönlichen Worten begrüßt. So kann auch ohne Körperkontakt eine wertschätzende und innige Stimmung entstehen. Bei Kummer und um Trost zu spenden sind, aufgrund der Abstandsregeln, keine Gesten, wie auf den Arm oder auf den Schoß nehmen möglich.
Empathische Gespräche, echter und interessierter Blickkontakt und eine Haltung auf Augenhöhe des Kindes können hier einiges kompensieren. Empathische Aufnahme des kindlichen Problems und sprachliche Rückmeldung führen zu einem einfühlenden Verstehen, das so wertvoll wie ein ‚über den Kopf streicheln‘ sein kann. „Du bist jetzt richtig traurig, weil deine Mama zur Arbeit gehen musste.“ „Du hast Angst weil du hier vieles noch nicht kennst.“ „Ich bin bei dir und wir können zusammen etwas suchen, was dir richtig Freude macht!“ „Ich glaube ich weiß, was dich trösten könnte! Ich habe gestern gesehen, wie du richtig viel Spaß hattest an…“
Viele Erzieherinnen setzen Bilderbücher oder Aufklärungsfilme zum Thema ein. Diese können informieren , eine Gesprächsrunde einleiten oder begleiten und bei Sorgen und offenen Fragen Auskunft geben. In manchen Einrichtungen werden Aussagen und Fragen der Kinder immer wieder notiert und in einer Gesprächsrunde zu Grunde gelegt. Handpuppen (mit Mundschutz) kommen zum Einsatz, um das Thema zu erarbeiten. In einer Einrichtung wurde nach einem Gespräch mit den Kindern über Verhaltensregeln, zum Beispiel ‚wie huste und niese ich richtig‘ oder ‚wie wasche ich meine Hände‘, mit jedem Kind ein eigenes Regelplakat erstellt. In einer Seifenwerkstatt wurden Seifen mit Lavendelblüten selbst hergestellt.

Über die Autorin:

Frau Monika Taplan-Bach (Erzieherin & Montessori- und Musikpädagogin) hat in Tübingen und Weingarten Pädagogik und Psychologie studiert und lehrt seit einigen Jahren an beruflichen Gymnasien und Fachschulen für Sozialpädagogik. Zur Zeit in Radolfzell am Bodensee. 
Sie ist Mitautorin des Buches »Kinder unter 3 - Erziehung, Bildung und Betreuung in der frühen Kindheit«.
ISBN: 978-3-14-245020-9