Anders als Justitia, die Göttin der Gerechtigkeit, die in der Rechten ein Schwert hält, um zu symbolisieren, dass ihre Gerechtigkeitsforderung zwangsbewehrt ist, also notfalls mit Gewalt durchgesetzt werden kann, verfügt die Göttin der Moral nur über den „sanften Zwang des besseren Arguments“, also Worte, Begründungen, um ihren Geltungsanspruch zu beglaubigen. In den Schalen der Pendelwaage, die Justitia in der Linken hält, liegen Vergehen und Strafe, Leistung und Gegenleistung, Wert und Gegenwert, die abgewogen werden; in den Waagschalen der Moral liegen – Texte: die „Nikomachische Ethik“ von Aristoteles, die „Einführung in die Prinzipien der Moral und der Ge- setzgebung“ von Jeremy Bentham, die „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ von Immanuel Kant und Adam Smith_ „Theorie der moralischen Gefühle“ oder Schopenhauers „Über das Mitleid“. Abgewägt und abgewogen werden hier die unterschiedlichen Begründungen dafür, wie ein moralisches Urteil zustande kommen soll oder was das moralisch Gute ausmacht: Soll ich so erzogen werden, dass ich über dasjenige Lust und Unlust empfinde, was ich soll? (Aristoteles); soll ich das „größte Glück der größten Zahl“ im Auge haben? (Bentham); soll ich mich allein an meinem autonom und vernünftig gewählten guten Willen orientieren? (Kant); oder soll ich mich, als einziges Korrektiv des weltumfassenden Egoismus, emotional ganz auf das „Wohl und Wehe“ des Anderen konzentrieren (Schopenhauer)?