Silke Hubrig: >>Was erhält Kinder gesund? Der salutogenetische Blick in der Kita<< (Juli 2021)

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Wie kann es ein, dass sich Lene in der Kita sofort mit jedem Schnupfen ansteckt und sich insgesamt oft krank fühlt, während ihre Freundin Pia nur selten erkrankt und in der Regel fröhlich und neugierig durch den Kita-Alltag hüpft? Die meisten Eltern und pädagogischen Fachkräfte würden sich fragen, welchen Risikofaktoren Lene ausgesetzt ist, die sie sich krank fühlen lassen. Ist sie zu dünn angezogen für die Witterung? Ernährt sie sich nicht gut? Schläft sie zu wenig? Nach dem Konzept der Salutogenese ist der Blickwinkel ein anderer. Es geht nicht darum, was Kinder krank werden lässt, sondern was jedes Kind gesund erhält.

Das Konzept der Salutogenese von Antonovsky

Das Konzept der Salutogenese wurde vom Medizin-Soziologen Aaron Antonovsky in den 1970er und 1980er-Jahren entwickelt. Ihm fiel auf, dass einige Menschen trotz krankmachender Umstände sich sehr krank fühlen, während andere Menschen, die unter denselben Umständen zu leiden hatten, sich als recht gesund bezeichneten. Er forschte danach, was Menschen gesund erhält. Das Wort Salutogenese setzt sich aus „Salus“ (lat.) was Heil/Gesundheit bedeutet und „Genese“ (griech.), was Entstehung bzw. Entwicklung heißt, zusammen. Antonovsky wandte sich mit seinem Konzept von der damals üblichen Forschungsfrage ab, was Menschen krank werden lässt.

Kein Mensch ist ausschließlich krank oder gesund

Antonovsky geht davon aus, dass kein Mensch gesund oder krank ist und der eine Zustand den anderen ausschließt. Vielmehr befindet sich jeder Mensch zwischen den beiden Polen Gesundheit und Krankheit. Aufgrund der gegenwärtigen Situation, in der sich der Mensch gerade befindet, verschiebt sich die eigene Position mal mehr Richtung Gesundheit und mal mehr Richtung Krankheit. Hat ein Kind beispielsweise ein gebrochenes Bein, welches eingegipst ruhig gehalten werden muss, so ist es nicht komplett krank, denn der Rest des Körpers ist gesund. Das Kind kann singen, malen, einen Sitztanz veranstalten u.ä.. Das Kind muss sich mit dem gebrochenen Bein nicht zwangsläufig krank und schlecht fühlen. Jeder Mensch ist eine Einheit aus Körper, Psyche und Umwelt (Vgl. Krause 2018, S. 11). Wenn das Kind z. B. mit dem gebrochenen Bein statt in die Kita zu gehen, mit dem Papa zu Hause bleibt, ihm sein Lieblingsessen im Bett serviert wird, der Papa Gesellschaftsspiele spielt und vorliest, fühlt es sich möglicherweise überhaupt nicht unwohl und krank.

Jedes Kind ist Stressoren ausgesetzt, welches es bewältigen muss 

Antonovsky ist der Auffassung, dass jeder Mensch Stressoren, also Spannungszuständen ausgesetzt ist. Mit Stressoren meint er beispielsweise Situationen und Zustände, die für einen Menschen neu sind. Es weiß noch nicht, wie es sich verhalten sollte und hat noch keine Bewältigungsstrategie parat. Kinder sind erheblichen Stressoren ausgesetzt, denn sie verfügen noch nicht über die Lebenserfahrungen von Erwachsenen. Mögliche Stressoren von Kindern sind beispielsweise der Übergang von der Kita in die Schule, die Geburt eines Geschwisterkindes oder auch der erste Übernachtungsbesuch beim besten Freund. Jedes Kind hat oder erlangt Widerstandsressourcen, die ihm helfen, Stressoren positiv zu bewältigen. Diese Widerstandsressourcen sind vielfältig. Sie reichen beispielsweise von rein körperlichen Faktoren über soziale Unterstützungsmöglichkeiten bis hin zu den finanziellen Möglichkeiten der Familie.

Das Herzstück der Salutogenese ist das Kohärenzgefühl

Nach dem Konzept der Salutogenese ist die Ausprägung des sogenannten Kohärenzgefühls für die Gesundheit eines Menschen entscheidend. Das Kohärenzgefühl (kohärent bedeutet zusammenhängend) ist das Grundgefühl, innerlich zusammengehalten zu werden und auch im Außen Halt zu haben (Vgl. Schiffer 2001, S. 29). Es ist eine sichere Grundhaltung gegenüber sich selbst und gegenüber dem Leben. Es wird durch die Lebenserfahrungen aufgebaut. Diese werden verinnerlicht und bleiben als innere Ressource, die bei Anforderungen mobilisiert werden können. Das Kohärenzgefühl wird nicht einmalig erworben und bleibt dann lebenslang. Es verändert sich mit den Situationen, Anforderungen, Erlebnissen und Erfahrungen und kann erweitert werden. Antonovsky meint, dass diese Veränderungen bis ins frühe Erwachsenenalter dauern. (Vgl. Schiffer 2001, S. 31) Menschen mit vielen positiven, stärkenden Erfahrungen in ihrer Kindheit sehen Anforderungen als Herausforderung und weniger als Belastung, an denen sie zerbrechen können.

Wie sich das Kohärenzgefühl zusammensetzt

Das Kohärenzgefühl setzt sich aus den Bestandteilen Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit zusammen. Verstehbarkeit meint, dass sich der Mensch die Welt erklären kann - in dem Sinne, dass für ihn Situationen einschätzbar und einzuordnen sind. Das Gefühl der Handhabbarkeit ist die eigene Überzeugung, dass der Mensch selbst Situationen und Anforderungen aktiv bewältigen kann. Das Gefühl der Bedeutsamkeit ist gegeben, wenn der Mensch das Gefühl hat, dass sein Leben und seine Handlungen einen Sinn haben. Für ein stark ausgeprägtes Kohärenzgefühl bei einem Menschen müssen alle drei Bestandteile vorhanden sein. Je stärker Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit entwickelt sind, desto gesünder ist der Mensch.

Das Kohärenzgefühl der Kinder in der Kita stärken

Um ein Gefühl von Verstehbarkeit aufzubauen, braucht das Kind vor allem konsistente Erfahrungen. „Ich sehe Mama und Papa am Ende des Kindergartentages wieder.“, „Wenn ich krank bin, werde ich aus dem Kindergarten abgeholt.“ „Wenn ich in den Kindergarten komme, ist eine Erzieherin da, die mich begrüßt.“ Diese verlässlichen Erfahrungen geben dem Kind ein Gefühl von Sicherheit, denn die Situationen können vom Kind eingeordnet und eingeschätzt werden.

Ein Kind, welches sein Leben als handhabbar erlebt, vertraut darauf, Situationen und Herausforderungen aktiv lösen zu können - entweder mit eigenen Möglichkeiten oder durch die Hilfe anderer. Wenn das Kind beispielsweise an ein Puzzle möchte, welches oben auf dem Regal liegt, so kann es sich einen Stuhl nehmen, heraufsteigen und das Puzzle nehmen oder auch die Erzieherin bitten, das Puzzle herunter zu holen. In beiden Fällen hat das Kind die Situation bewältigt und erlebt sie als handhabbar. Um das Gefühl von Handhabbarkeit aufbauen zu können, benötigt das Kind Anforderungen und Aufgaben, die es weder über- noch unterfordern. Hier sollten pädagogische Fachkräfte im pädagogischen Alltag stets individuell differenziert vorgehen. Das Kind braucht Gelegenheiten, Zeit und auch Unterstützung der pädagogischen Fachkraft, um selbsttätig kreative Lösungsstrategien zu entwickeln. Gut ist es, wenn es merkt, dass es letztendlich unterschiedliche Ressourcen zur Verfügung hat, von denen es je nach Situation auswählen kann.

Erlebt ein Kind sein Leben als bedeutsam und sinnvoll, wird es als lohnend empfinden, die Herausforderungen und Anforderungen anzunehmen und zu bewältigen. Um sich und sein Leben als bedeutsam zu empfinden, sollten pädagogische Fachkräfte die Selbstständigkeit und Autonomie der Kinder stärken. Hier sollten die alltäglichen Möglichkeiten zur Partizipation im pädagogischen Alltag wahrgenommen werden. Die Kinder können beispielsweise in den Entscheidungsprozess mit einbezogen werden, mit welchem Projektthema sie sich beschäftigen möchten, welches Lied im Morgenkreis gesungen wird oder welche Gruppenregeln im Toberaum gelten. Jedes Kind sollte sich als wichtigen Teil der Gruppe erleben können und sich zugehörig fühlen. Das beinhaltet beispielsweise, dass alle Meinungen in Entscheidungsprozessen gehört und berücksichtigt werden. Daneben ist auch der Aufbau eines positiven Selbstwertgefühls unverzichtbar, um sich und die Welt als bedeutungsvoll wahrnehmen zu können. Die Kinder sollen eine sichere Bindung zu den Fachkräften aufbauen und die Akzeptanz, Respekt, Anerkennung und Wertschätzung durch die Fachkräfte erleben (Vgl. Krause 2018, S. 25). In der Kita sollte eine positive Kommunikationskultur herrschen. Fachkräfte sollten darauf achten, dass alle Kinder wertschätzend miteinander umgehen und niemand ausgeschlossen wird. Damit sich tatsächlich alle Kinder angenommen und wertgeschätzt fühlen, sollte jedes Kind in der Kita seine Familienstruktur (z. B. gleichgeschlechtliche Eltern oder Patchworkfamilie) und seine kulturellen Hintergründe in der Kita wiederfinden (z. B. Bilderbücher in der Herkunftssprache des Kindes).

Pädagogische Fachkräfte müssen sich in ihrer Arbeit wohl fühlen, um Kohärenzgefühl zu vermitteln

Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit kann nur von Fachkräften vermittelt werden, die aus eigenem Erleben wissen, was es bedeutet. Pädagogische Fachkräfte sollten ihre berufliche Tätigkeit als sinnvoll wahrnehmen und davon überzeugt sein, dass ihre Arbeit Kinder in ihrer gesunden Entwicklung unterstützt. Hier spielt auch die Partizipation bei der Planung und Gestaltung pädagogischer Arbeit eine große Rolle. Wer sich beispielsweise den Anweisungen der Kitaleitung hilflos ausgeliefert fühlt und nicht in Entscheidungsprozesse mit einbezogen wird, kann sich bei der Arbeit in der Kita nicht immer wohlfühlen. Damit sich Fachkräfte in der Kita wohlfühlen, sind sie genau wie die Kinder darauf angewiesen, dass Kolleg*innen und Einrichtungsleiter*innen sie wahrnehmen, akzeptieren, wertschätzen und ihnen eine Rückmeldung auf ihr Tun geben. Eng daran geknüpft sind die Arbeitsbedingungen für die Fachkräfte in der Kita.

Fazit

Ein gesunder Zustand ist nicht ein Mal erreicht und bleibt dann so. Die inneren und äußeren Lebensbedingungen ändern sich und dementsprechend muss die Gesundheit und das Wohlbefinden immer wieder hergestellt werden. Die Faktoren Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit bilden das Kohärenzgefühl und sind ausschlaggebend dafür, Stressoren und Spannungszustände gut bewältigen zu können. Menschen mit einem hohen Kohärenzgefühl sind gut in der Lage, Widerstandsressourcen zu bilden. In der Kita können pädagogische Fachkräfte beispielsweise durch den Aufbau sicherer, verlässlicher Bindungen, Partizipation, Wertschätzung und Anerkennung der Kinder und der Förderung der kindlichen Autonomie zum Aufbau eines positiven Kohärenzgefühles beitragen. Grundsätzlich sollte der Blick auf das Kind im salutogenetischen Sinne ressourcenorientiert sein, denn Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit.

Quellen und Literatur


Quellen:
• Antonovsky, Aaron: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. (Deutsche erweiterte Herausgabe von Alexa Franke). Tübingen, dgvt-Verlag. 1997
• Krause, Christina: Salutogenese in der Kita. Was Kinder gesund erhält. Berlin, Cornelsen Verlag, 2018
• Krause, Christina: „Der salutogenetische Blick“ Fachstandard in der Arbeit von Erzieher/innen? https://www.kita-fachtexte.de/fileadmin/Redaktion/Publikationen/KiTaFT_Becker_GesundheitsfoerderunginderKrippe_2017.pdf, Stand 29.05.2020
• Schiffer, Eckhard: Wie Gesundheit entsteht. Salutogenese: Schatzsuche statt Fehlerfahndung, Weinheim und Basel, Beltz Verlag, 2001